Boomende Tierarztketten: Warum sind sie attraktiv?

Segen oder Fluch? Wie verändern Kapitalinvestoren den deutschen Praxis-Markt. bpt-Podiumsdiskussion in Bielefeld. (Foto: ©WiSiTiA/jh)Segen oder Fluch? Wie verändern Kapitalinvestoren den deutschen Praxis-Markt. bpt-Podiumsdiskussion in Bielefeld. (Foto: ©WiSiTiA/jh)

Binnen vier Jahren haben Investoren in Skandinavien etwa 50 Prozent des Tierarztmarktes erobert. Lässt sich dieser „Erfolg“ in Deutschland wiederholen? Eine Marktübersicht.

von Jörg Held

Logo_bpt_Bielefeld_2016Die wichtigste Aussage vorab: Der weltweite Trend zu Tierarztketten wird sich auch hierzulande nicht aufhalten lassen. Gesetze oder Standesregeln können ihn höchstens verzögern. Er ist getrieben von Kundenwünschen und finanziellen Zwängen. Die EU-Gesetzgebung der freien Marktwirtschaft fördert ihn. Dennoch werden auch klassische Tierarztpraxen weiter bestehen. Die berufspolitische Veranstaltung des bpt auf der Kleintierfortbildung in Bielefeld gab Antworten auf die wichtigsten Fragen zum Thema Praxisketten.

Mehr darüber, wie Investoren Kammervorgaben ignorieren lesen Sie hier

Wer ist im Markt aktiv?

Erklärt das AniCura_Konzept: Dr. Arndt Stelljes, einer von bisher 13 Klinikinhabern, die an diese schwedische Kette verkauft haben und "ihre Klinik" jetzt als Geschäftsführer weiterführen. (Foto: ©bpt/Jan Rathke)

Erklärt das AniCura_Konzept: Dr. Arndt Stelljes, einer von bisher 13 Klinikinhabern, die an diese schwedische Kette verkauft haben und „ihre Klinik“ jetzt als Geschäftsführer weiterführen. (Foto: ©bpt/Jan Rathke)

In Deutschland sind das vor allem zwei schwedische Klinik-Ketten: AniCura mit etwa europaweit etwa 100 Standorten und Evidensia mit bislang rund 160 Praxen & Kliniken (in Skandinavien, D, NL, Österreich; CH). Aktuell habe AniCura 13 deutsche Standorte, Tendenz weiter steigend, berichtete Dr. Arnd Stelljes – der seine Tierklinik am Bökelberg an die Kette verkauft hat. Evidensia hat nach eigenen Angaben aktuell vier deutsche Standorte und will bis Jahresende auf 20 Kliniken wachsen.

Hinter den Schweden – die beide erst vor wenigen Jahren durch den Zusammenschluss von Tierkliniken entstanden sind – stehen inzwischen millionenschwere Investmentfonds: Nordic Capital und Fidelity (AniCura) sowie EQT (Evidensia). Auch die Rhön-Kliniken-AG hat, aus der Humanmedizin kommend, Übernahme-Gespräch mit Tierklinikinhabern geführt.

Mehr über „Finanzinvestoren“ und Ängste vor „Heuschrecken“ lesen Sie hier

Welche Kliniken (bislang) zu welcher Kette gehören, ist in diesem Artikel aufgelistet (Stand: März 2017)

Was ist das Ziel?

Es sollen schnell Tierklinik-Verbünde entstehen in denen sich dann Synergien heben lassen – etwa durch gemeinsames Management, Marketing, Verwaltung, Fortbildung, Personal- und Experten-Sharing oder standardisierte Abläufe. Wichtig sind auch bessere Einkaufskonditionen (Verbrauchsmaterial und Technik) durch einen (perspektivisch) europaweiten Einkauf.

Eher mittel als langfristig planen die Finanzinvestoren dann den gewinnbringenden „Exit“ durch einen Börsengang oder den Weiterverkauf – idealerweise an einen Käufer, der das Klinik-Geschäft dauerhaft betreiben will: So gibt es in Australien und den USA börsennotierte Tierarztketten. Die größte US-Klinikkette Benfield (rd. 900 Standorte) gehört beispielsweise zu 100 Prozent dem Lebensmittelkonzern und Futtermittelhersteller Mars (Pedigree, Whiskas, Frolic, etc.). In der Branche wird gemunkelt, dass die Amerikaner auch am europäischen Markt Interesse hätten. Oder, so schreibt es die Deutsche Apotheker Zeitung, Pharmafirmen könnten ihrerseits womöglich eine Tierarztpraxiskette übernehmen – vertikale Konzentration nennen das die Apotheker. Im (noch nicht betroffenen) Nutztierbereich könnte es eventuell für Schlachtkonzerne interessant sein, auch Tierarztpraxen in ihre bereits bestehenden Integrationen einzugliedern.

Wohin die Entwicklung gehen kann, zeigen die Marktanteilszahlen der Ketten (bezogen auf Praxen). Den beziffert der Chef der niederländischen Tierarztkette „Steerkliniek Dierenartsen“, Bob Carrière in Bielefeld für die USA auf 40 Prozent, für England auf 50 und Skandinavien auf 52 Prozent. Der Anteil am Umsatz sei meist noch höher, da die Ketten eher im hochpreisigen Segment aktiv und auch profitabler ausgerichtet sind (siehe Grafik).

40 oder mehr Prozent Marktanteil – ob das die Ketten auch in Deutschland schaffen, ist noch offen. (Folie: ©Vortrag Bob Carrière/bpt Bielefeld)

40 oder mehr Prozent Marktanteil – ob das die Ketten auch in Deutschland schaffen, ist noch offen. (Folie: ©Vortrag Bob Carrière/bpt Bielefeld)

Wie verändert sich die Praxislandschaft?

Unterschieden werden muss zwischen Klinik- und Praxisketten sowie Kleintier-, Gemischt- und Nutztierpraxen: Während AniCura nur Kleintierkliniken betreibt, hat Evidensia in Skandinavien einen 15-Prozent-Pferdeanteil und in Dänemark und Holland auch Kliniken mit Nutztieranteil gekauft: die Dierorzengroup Netherland, einen Zusammenschluss von 15 Praxen.
In Deutschland aber investieren die Ketten aktuell nur in Kleintierpraxen/Kliniken ab etwa einer Million Euro Umsatz aufwärts. Sie eröffnen (noch) keine neuen Standorte. Damit ist die große Mehrheit der deutschen Praxisinhaber (noch) nicht unmittelbar betroffen.

Auch Satellitenpraxen möglich

Doch in einem Interview sagte Nicolas Hass, Business Manager AniCura Deutschland, dass „es zu ‚Clustern‘ kommen kann – mit Satellitenpraxen um eine Klinik herum.“ In Skandinavien heißt diese Modell VetFamily.
Vorbild dafür sind wohl die USA, Großbritannien oder Holland. Dort gehören auch viele mittelgroße Praxen (drei bis sieben Tierärzte) zu Ketten. Viele Standorte sind an Zoo/Heimtier- oder Gartencenter angegliedert.
Erste Ansätze dieser Art gibt es auch in Deutschland mit der Praxis-Kette „SmartVet“ (21 Standorte) oder dem Engagement der Fressnapf-Gruppe (800 Filialen): Sie will zunächst in sechs Märkten in NRW Tierarzt-Partner-Praxen einrichten und dort das Konzept testen. Einem „Roll-out“ in weitere Filialen steht dann wenig im Wege. Diese Strukturen wären in der Fläche eine echte Konkurrenz für klassische Tierarztpraxen.

Was Fressnapf im Tierarzt-Praxis-Markt plant lesen Sie hier

Warum können Ketten so schnell wachsen?

Der Tierarztmarkt kann sich generell nicht von gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftstrends abkoppeln. So steht dem Wachstum von Drogerie-, Schuh- und Bekleidungsketten, von Lebensmittel- oder Bäckereiketten, etc. ein Niedergang kleiner Handwerksbetriebe oder „Tante-Emma-Läden“ gegenüber. Diese Entwicklung lasse sich in gewissem Umfang auch auf die Tierarzt-Branche übertragen – mit drei wichtigen Faktoren:

  • "Eine neue Generation Kunden mit anderen Erwartungen" – Bob Carreière, Tierarzt und Gründer des holländischen Praxisverbundes „Sterklieniek Dierenartsen“ (78 Standorte). (Foto: © bpt/Jan Rathke)

    „Eine neue Generation Kunden mit anderen Erwartungen“ – Bob Carreière, Tierarzt und Gründer des holländischen Praxisverbundes „Sterkliniek Dierenartsen“ (78 Standorte). (Foto: © bpt/Jan Rathke)

    Veränderte Kundenerwartungen – Bob Carrière, Gründer und CEO der niederländischen „Sterkliniek Dierenartsen“-Gruppein der sich Tierärzte mit 78 Standorten zusammenschlossen haben, und auch der Evidensia-Berater Prof. Raj Bali verwiesen mehrfach auf die Ansprüche gerade junger kaufkräftiger Generationen. Die erwarteten qualitativ höhere medizinische Standards und Ausstattungen. Sie gingen nicht mehr nur zum Tierarzt, sondern zum Augen-, Herz- oder Hautspezialisten. So wie sie sich im Internet über Restaurant-Bewertungen informieren, ersetzten Facebook-Bewertungen die klassische Mund-zu-Mund-Propaganda. Das Persönliche sei nicht mehr so entscheidend. Stattdessen akzeptierten sie „Marken“ die für ein Leistungsversprechen stehen.
    Dies trifft nicht auf alle Kunden zu, aber diese Kundengruppen stehen im Fokus der Ketten, denn sie können deren Erwartungspaket besser erfüllen.

  • Veränderte Mitarbeitererwartungen – Ein wichtiger Faktor ist die Feminisierung des Tierarztberufes. Frauen stellen europaweit nahe oder über 80% des Tierarztnachwuchses (Niederlande 92%). Sie wollen mehrheitlich angestellt arbeiten, erwarten dabei planbare Arbeitszeiten, Teilzeitangebote und einen angemessenen Verdienst. Karriereinteressen treten gegenüber einer Work-Life-Balance in den Hintergrund. Umgekehrt sinkt die Bereitschaft als Unternehmerin und Praxisinhaberin auch finanziell ins Risiko zu gehen und Verantwortung für Mitarbeiter zu übernehmen. Dazu kommt gerade bei Akademikern der Trend zur Urbanisierung. In Ballungsräumen gibt es ein Überangebot an Tierärzten. Ketten erscheinen ihnen als attraktive Arbeitgeber (mehr lesen Sie hier).
  • Veränderter Finanzbedarf – Mit den Ansprüchen der Kunden steigt auch der Finanzbedarf in (Kleintier)Praxen/Kliniken. Zum einen die Personalkosten, aber auch die Technikkosten (Ultraschall/Digitales Röntgen/CT/MRT). Der Trend zu größeren Einheiten zeigt sich auch in inhabergeführten Praxen und Kliniken. Die Deutsche Tierärztestatistik verzeichnet seit Jahren ein stetiges Wachstum der Gemeinschaftspraxen. Im Klinikbereich wachsen die Einheiten in Richtung 30 bis 50 und auch deutlich mehr Mitarbeiter. Bei der Nachfolgersuche für diese großen bereits jetzt bestehenden Praxen/Kliniken, stellt sich wiederum eine Frage: Wer soll und kann diese großen Einheiten überhaupt noch kaufen?

Was der Einstieg der Ketten für Praxisinhaber, angestellte Tierärzte und die Zukunft kleiner Praxen bedeutet, beschreibt der zweite Teil dieses Artikels.

Alle bisher erschienen Artikel zum Thema „Kapitalinvestoren“ finden Sie hier in der Übersicht

Offenlegung: Der Autor hat über die Bielefelder Veranstaltung des Bundesverbandes praktizierender Tierärzte auch im Auftrag des bpt berichtet (bpt-info 4/2016 – Link hier)

"Diskutierten den "Segen oder" Fluch von Tierarztketten (v.l.n.r): Dr. Carsten Grußendorf (Tierklink Grußendorf), Dr. Arnd Stelljes (AniCura-Klinik Mönchengladbach), Heiko Färber (bpt-Geschäftsführer), Terril Moseng (Norwg. Tierärzteverband), Bob Carrière (sterkliniek dierenartsen Niederlande), Petra Sindern (1. bpt-Vizepräsidentin/Moderation). (Foto: © bpt/Jan Rathke)

„Diskutierten den „Segen oder“ Fluch von Tierarztketten (v.l.n.r): Dr. Carsten Grußendorf (Tierklink Grußendorf), Dr. Arnd Stelljes (AniCura-Klinik Mönchengladbach), Heiko Färber (bpt-Geschäftsführer), Terril Moseng (Norwegischer Tierärzteverband), Bob Carrière (Sterkliniek Dierenartsen Niederlande), Petra Sindern (1. bpt-Vizepräsidentin/Moderation). (Foto: © bpt/Jan Rathke)

Teilen
Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
Web Design MymensinghPremium WordPress ThemesWeb Development

Wildtiere: Hilfe kann auch Leid bedeuten

9. März 20169. März 2016
Ein Faltblatt gibt Tipps zum Umgang mit Wildtieren. (©Landestierschutzbeauftragte Hessen / Erni/Fotolia.com)„Wildtiere brauchen in den aller seltensten Fällen menschliche Hilfe," sagt die Landestierschutzbeauftragte Hessen. Was tun kann, wer ein Wildtier findet – oder aber auch besser lassen sollte – erklärt ein Flyer, den Dr. Madeleine Martin zusammen mit der Landestierärztekammer Hessen herausgegeben hat. (mehr …)