Kommentar: Therapiefreiheit ade?

Wer entscheidet eigentlich über die Therapie kranker Tiere? Der Tierarzt – sollte man zumindest meinen. Doch der „Bio-Skandal“ um die Hermannsdorfer Landwerkstätten zeigt: Das letzte Wort hat am Ende allzu oft der Tierhalter – egal ob bio oder konventionell, denn: Bist du nicht willig, Doc … dann fliegst Du raus!

Ein Kommentar von Jörg Held

„Wir haben den Tierarzt gewechselt“ – die Schlagzeile eines taz-Artikels klingt nach lapidarer Schuldzuweisung und zeigt zugleich in entwaffnender Offenheit das ganze Dilemma der momentanen Antibiotika-Diskussion:
Weil er das „nach seiner Ansicht beste Medikament“ eingesetzt hat, ist ein Tierarzt jetzt seinen Kunden los. Denn das „Reserveantibiotikum“ verstößt dummerweise gegen Bio-Regeln. Die fachlich korrekte Therapie an sich hat zwar durchaus gewirkt. Aber im Nachgang – und weil die Medien schreien – wechselt man halt den Tierarzt und der neue Bestandsbetreuer „ist entsprechend instruiert“, nicht mehr gegen die Vorgaben des Bio-Anbieters zu verstossen (Hintergründe siehe unten).

Therapiefreiheit auf der Kippe

Deutlicher lässt sich kaum ausdrücken, was in der momentanen – man könnte fast sagen „Antibiotika-Hysterie“ – komplett schief läuft und worauf Standesvertreter unermüdlich, aber letztlich wohl nicht erfolgreich genug hinweisen: Die Therapiefreiheit der Tierärzte steht vielfach auf der Kippe.
Wenn externe Regeln – seien es die Vorgaben der Bioverbände oder auch die rechtlichen Rahmenbedingungen des Staates (AMG-Novelle/Therapieindex oder Antibiotika-Eckpunktepapier) – zum allein-therapiebestimmenden Dogma werden, dann ist der Arzt nicht mehr Arzt, sondern nur noch Vorgabenabarbeiter.

Edle Bio-Regeln

Die Bio-Regeln gelten dabei als edel und gut. Sie verpflichten zum Verzicht auf Wirkstoffe, die für die Human-Medizin als „besonders kritisch“ eingestuft und zusätzlich noch mit dem politischen Schlagwort „Reserveantibiotika“ geadelt wurden (obwohl sie 50 Prozent der humanmedizinischen Verordnungsvolumens ausmachen). Das zahlt auf das „Besser-als-der-Rest-der-Welt-Image“ ein. Aber nein: Es ist kein Skandal, wenn ein Tierarzt sich über Bio-Regeln hinwegsetzt und in einem 600er Schweinebestand 33 Tiere pro Jahr(!) mit dem aus seiner Sicht besten Wirkstoff behandelt. Das ist seine Aufgabe! Mehr Einzeltierbehandlung geht kaum.

Falsche Anreize im AMG

Im konventionellen Bereich ist es umgekehrt: Dort diskriminiert zum Beispiel die Gesetzgebung mit dem Begriff der Therapiehäufigkeit in der aktuellen AMG-Novelle dummerweise bewährte klassische Kombinationswirkstoffe (etwa Trimethoprim-Sulfonamid-Präparate). Die werden, weil sie zwei Wirkstoffe enthalten, auch mit zwei Wirktagen gezählt, die alternativ zugelassenen „Reserveantibiotika“ dagegen nur mit einem Tag.
Klar, wohin dieser rechtliche Anreiz führt: Weil die Tierhalter die sogenannte „Kennzahl 2“ fürchten, wie der Teufel das Weihwasser, wehren sie sich mit Händen und Füßen gegen den Einsatz der „Klassiker“. Weist ihr Betrieb nämlich viele „Wirktage“ auf, gelten sie medial als böse Vielverbraucher und sind mit Maßnahmen bis hin zur Betriebsschließung bedroht. Das wäre zwar ein Extremfall und die Behörden landauf landab signalisieren, dass sie Überschreitungen der Kennzahl 2, bei denen bewusst auf kritische Wirkstoffe verzichtet wurde, mit „Augenmaß“ bewerten. Allein: Den Tierhaltern fehlt angesichts der Aufgeregtheit mancher Parteien, der NGO’s und der Medien der Glaube.
In Geflügelintegrationen und von großen Fast-Food-Ketten gibt es die Vorgabe, dass „Reserveantibiotika“ erst ab drei bis fünf Prozent Verlustrate eingesetzt werden dürfen – im Klartext: Das sind erst mal 1.050 bis 1.750 tote Tiere bei einem 35.000er Bestand. Auch hier diktiert die mögliche Angst, als volksschädlicher „Resistenz-Produzent“ gebrandmarkt zu werden, die Behandlung. Tierschutz und Therapiefreiheit des Arztes sind nachrangig.

Tierarzt zwischen Pest und Cholera

Der Tierarzt hat am Ende also die Wahl zwischen Pest und Cholera: Setzt er das aus seiner Sicht besser geeignete (böse) Medikament ein, verliert er seinen Kunden. Verordnet er „kundenorientiert“ das, was die jeweilige Klientel von ihm fordert, gibt er seine Therapiehoheit auf.
Und ja: Für die Tierärzte ist es wenig schmeichelhaft, wenn aktuelle Verordnungszahlen zeigen, dass sie wohl immer öfter den zweiten, den nachgebenden Weg wählen. Haben die kein Rückgrat? Warum setzen sie die „medizinisch sinnvollere“ Therapie nicht durch? Wie viel Solidarität gibt es in der Branche? Die Fragen darf und muss man stellen.
Es gibt Kollegen, deren „medizinisches Standing“ so gut ist, dass sie sich gegen ein allgemeines mediales Lüftchen durchaus behaupten können. Doch erreicht ein „shitstorm“ ihre Kunden direkt, wage ich die Behauptung, werden auch sie hinweggefegt. Am Ende regelt sowas dann der Markt – siehe oben: Tierarzt gewechselt.

Politik muss Wortwahl überdenken

Deshalb sollte sich die Politik ernsthaft Gedanken über ihre „Antibiotikastrategie“ und vor allem deren Kommunikation und die medialen Auswirkungen machen: Da läuft etwas in die falsche Richtung.
Meist heißt es: Natürlich müsse die medizinisch notwendige Behandlung von Tieren immer Vorrang haben, … aber … und dieses „aber“ wird dann ganz groß geschrieben und garniert mit Signalworten wie „Massentierhaltung“, „Missbrauch“, „Leistungsförderer“, „illegalem Einsatz“ und dergleichen mehr. Da bleibt am Ende wenig übrig vom Grundsatz, dass „(Reserve)Antibiotika für die Behandlung von Mensch und Tier erhalten bleiben müssen“ – verantwortungsvoll und gesetzeskonform (sic!) eingesetzt vom Tierarzt im Rahmen seiner Therapiefreiheit.

 

Wortlaut des taz-Artikels

Die Passage im taz-Interview im Wortlaut (kursive/farbliche Hervorhebung durch die Redaktion). Der Artikel als Ganzes gibt einen Einblick in die Regeln der Bio-Branche.

>>(taz): Hätten Sie sich nicht gegen die Antibiotikaverordnungen Ihres Tierarztes wehren können?

(Karl Schweisfurth/Bio-Bauer): Nein, das sind ärztliche Verordnungen in der Lebensmittelproduktion. Da konnten wir uns nicht verweigern. Wenn ein Tier stirbt, machen Sie sich schuldig. Der bayerische Tiergesundheitsdienst …

… der in Bayern ein Monopol hat …

… trifft die Entscheidungen. Da gab es keine Diskussionen, das habe ich selbst erlebt. Der Tierarzt sagt, ich bin der Fachmann, ich muss mich drauf verlassen, dass meine Verordnung umgesetzt wird. Der Neue wird mit sanfteren Methoden arbeiten.

Der Verein Soko Tierschutz hat eine Medikamentenliste vorliegen, wonach Tiere Ihres Betriebs auch Antibiotika der Gruppe Fluorchinolone bekamen, unter anderem das Präparat „Baytril“. Die Richtlinien von Biokreis, wo Sie Mitglied sind, verbieten Fluorchinolone.

Baytril wird bei uns nicht mehr eingesetzt. Es lag noch ein Präparat im Kühlschrank, aber es gibt einen Rücknahmebeleg des Tiergesundheitsdiensts. Die Richtlinien von Biokreis gibt es noch nicht so lange. Unsere Veterinäre haben sich in Einzelfällen über die Biokreis-Richtlinien hinweggesetzt, weil sie eine andere Einschätzung hatten. Unser alter Tierarzt hat Baytril als seiner Ansicht nach bestes Medikament gegen eine Erkrankung eingesetzt. Diese Antibiotika kommen jetzt nicht mehr zum Einsatz, unser neuer Tierarzt ist entsprechend instruiert. Aber gegen gesetzliche Bestimmungen wurde nie verstoßen.<<

Den vollständigen Artikel finden Sie hier.

[box]Der Hermannsdorfer „Bio-Skandal“

  • Ausgelöst hat ihn ein Fernsehbeitrag des ARD-Magazins Fakt mit der Kritik, „Bio-Tiere sind auch nicht gesünder als andere“, weshalb eben auch „Reserveantibiotika“ eingesetzt wurden.
  • Welche grundsätzlichen Konsequenzen solche „Einzelberichte“ entfalten können, zeigt sich hier: Plötzlich hinterfragen andere Medien die komplette Bio-Welt und schreiben über „Bio-Klischees“ (süddeutsche.de). Dadurch entsteht der Druck in der Kette, der z.B. in einen Tierarzt-Wechsel münden kann.
  • Der Biokreis – dem die Hermannsdorfer Landwerkstätten angeschlossen sind – versuchte mit Pressemeldungen sein Image zu retten (hier und hier).
  • Dabei merkte der Biokreis plötzlich selbst, dass sich die Hermannsdorfer Werkstätten künftig über die Therapiefreiheit des Arztes hinwegzusetzen gedachten – und versuchte das per Pressemeldung wieder zu relativieren (hier)
  • Eine manchmal überspitzte aber grundsätzlich zutreffende Analyse der „Bio-Show“-Elemente, die falsche Bilder beim Verbraucher erzeugen, kommt von Georg Keckl.

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Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
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