Colistin – die wechselhafte Geschichte eines Antibiotikums

Es ist als Antibiotikum seit mehr als 50 Jahren nebenwirkungsfrei in der Tiermedizin im Einsatz, gilt als toxisch für den Menschen – und soll doch womöglich „Reserveantibiotikum“ werden: Colistin. Grund ist ein neu entdeckter Resistenzmechanismus. Ein Überblick über die Geschichte des Colistins, Alternativen und mögliche Konsequenzen der aktuellen Neubewertung durch die EU.

von Annegret Wagner

Colistin (Polymyxin E) gehört, der Name sagt es, zur Antibiotikagruppe der Polymyxine. Erstmals 1949 in Japan aus Bacillus polymyxa var. colistinus isoliert, ist es seit den 50er Jahren in der Humanmedizin im Einsatz. Colistin wirkt, indem es die äußere Zellmembran von gram-negativen Bakterien zerstört, sodass diese auslaufen und sterben. Darüber hinaus kann es Lipopolysaccharide neutralisieren und so die pathophysiologischen Effekte von Endotoxinen verhindern.
Mit diesen Mechanismen ist Colistin gut wirksam gegenüber Acinetobacter, Pasteurellen, Klebsiellen, Enterobacter, Escherichia coli, Salmonellen, Shigellen und ähnlichen Bakterien. Es wirkt nicht gegen aerobe Kokken, gram-positive aerobe Bazillen, sowie sämtliche Anaerobier. Darüber hinaus haben Pseudomonas mallei, Brucellen, Proteus sp. und Serratia Resistenzen ausgebildet.

In Humanmedizin wegen Nierenschäden ausgemustert

In der Humanmedizin haben die Ärzte Colistin zunächst vor allem parenteral (intramuskulär und intravenös) und später auch oral angewandt. Doch weil es beim Menschen schwere Nierenschäden verursacht und weitere erhebliche Nebenwirkungen hat, wurde das Antibiotikum ausgemustert –  insbesondere nachdem die Aminoglykoside mit vergleichbaren humanmedizinischer Wirkbreite eingeführt wurden. Seit den 1980ger Jahren haben die Humanmediziner Colistin praktisch nicht mehr eingesetzt. Lediglich als Aerosol bei der Therapie von Mukoviszidose erwies es sich als relativ gut verträglich und die Ärzte verwendeten es für diese Indikation weiterhin.
Selbst nach 10-jähriger Anwendung mittels Inhalation werden keine Bakterien mit vererbten Colistin-Resistenz gefunden, wodurch die Wirksamkeit lange unverändert gut ist.

[box]Das Thema Colistin-Resistenz erregt weltweit Aufmerksamkeit: Hier Übersichtsartikel aus der Washington Post.[/box]

Renaissance durch Multiresistenzen

Doch weil in den letzten Jahren immer mehr Antibiotikaresistenzen die Arbeit der Humanmediziner erschweren, während so gut wie keine neuen Medikamente entwickelt wurden, erlebt Colistin eine Art Renaissance: Neben Colistinsulfat gibt es nun mit Colistinmethat-Natrium eine deutlich besser verträgliche Alternative. Außerdem hat eine genaue Dosisanpassung ebenfalls zur Verringerung unerwünschter Nebenwirkungen geführt.
Damit wird das mit wenigen Resistenzen belastete Colistin zu einer der letzten verbliebenen Therapieoptionen, insbesondere bei Infek­ti­o­nen mit Carbapenem-resistenten Enterobakterien (Escherichia coli, Klebsiella pneu­mo­niaeu.a.) oder Acinetobacter baumanii – hier speziell bei sogenannten 4MDRGN A. baumanii, einem vierfachresistenten Keim, der vor allem über Reisen „importiert“ wird.
Obwohl Colistin diese Rolle übernommen hat, bezeichnete die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) in einer Bewertung des Colistin-Einsatzes in Human- und Tiermedizin (2013) das Medikament als „therapeutisch wichtig“ für die Veterinärmedizin und hat den weiteren Einsatz für akzeptabel erklärt. Allerdings war zum damaligen Zeitpunkt „…kein horizontal zwischen Bakterien über­trag­barer Resis­tenz­mecha­nis­mus bekannt.” (u.a. Bericht der EMA, S. 14). Sobald hierzu Erkenntnisse vorliegen, müssten die Risiken neu bewertet werden, schrieb die EMA. Jetzt meldet Reuters, dass diese Neubewertung erfolgt.

Nebenwirkungsfrei bei Tieren

Polypeptid-Antibiotika (Colistin) liegen bei der deutschen Abgabemengenerfassung konstant auf Platz 4. (Tabelle: ©BVL

Polypeptid-Antibiotika (Colistin) liegen bei der deutschen Abgabemengenerfassung konstant auf Platz 4. (Tabelle: ©BVL

Anders als beim Menschen wirkt Colistin bei Tieren nebenwirkungsfrei – vor allem bei Darmerkrankungen. Da es für die Humanmedizin nicht mehr wichtig war, setz(t)en Tierärzte es insbesondere bei Schweinen und Geflügel relativ häufig ein. In Deutschland liegt es aktuell in der Mengenerfassung der abgegebenen Antibiotika auf dem vierten Platz (von 18). Es lässt sich an Nutztiere oral, also über Futter oder Wasser wirksam verbreichen. Weitere Vorteile sind eine kurze Wartezeiten auf Fleisch, Eier und Milch und ein niedriger Preis, da das Medikament lange auf dem Markt ist und keinen Patentschutz mehr genießt.
Auch in der Tiermedizin ist die Resistenzlage – so berichten Praktiker unisono – gut. Bisher galt, das Resistenzen nur über Mutationen weitergegeben werden.
Das BfR erklärt in seiner Meldung zum neu entdeckten Colistin-Resistenzgen denn auch, dass der Anteil Colistin-resistenter Bakterien-Isolate von Nutztieren in den letzten Jahren in Deutschland nicht angestiegen sei – obwohl es das mcr-1-Gen anscheinend hierzulande seit Jahren gebe (siehe unten). Etwa zehn Prozent der untersuchten Isolate zeigten eine Colistin-Resistenz.

Colistin-Alternativen

Erst Wahl als Colistin-Alternative wären die ebenfalls gegen gram-negativen Bakterien wirksamen Fluorquinolone und  Cephalosporine der 3. und 4. Generation. Das aber würde bedeuten, zwischen Pest und Cholera zu wählen, denn sie zählen bereits zur WHO-Kategorie der „Highest Priority Critically Important“-Antibiotika (in Deutschland als „Reserveantibiotika bezeichnet).
Grundsätzlich gibt es eine Reihe von weiteren möglichen Alternativen zu Colistin, die ebenfalls prinzipiell gegenüber gram-negativen Bakterien wirksam sind. Dazu zählen sowohl Amoxicillin (incl. der Kombination mit Clavulansäure) als auch Ampicillin, Apramycin, Gentamycin, Lincomycin/Spectinomycin, Neomycin, Tiamulin und die Sulfonamide (auch in Kombination mit Trimethoprim). Ob und welches  Präparat alternativ zu Colistin eingesetzt werden kann, sollte aber durch ein Antibiogramm abgeklärt werden. Sämtliche genannten Wirkstoffe sind für Schweine und Geflügel zugelassen und mit Ausnahme von Gentamycin auch als orale Formulierungen erhältlich.

Folgen der neuen mcr-1-Resistenz

Ob Colistin weiter im gewohnten Umfang in der Tiermedizin eingesetzt werden kann, dürfte von der politischen und fachlichen Bewertung der weltweiten Nachweise des neu entdeckten mcr-1-Resistenzgens abhängen. Befunde des Bundesinstitutes für Risikobewertung (BfR) und des Forschungsverbund RESET wiesen die Resistenz auch in Deutschland nach. Das BfR habe, so erläutert Dr. Annemarie Käsbohrer (BfR) gegenüber wir-sind-tierarzt.de, bis ins Jahr 2012 zurückreichend gezielt Isolate mit einer bestehenden Colistin-Resistenz auf das neue mcr-1-Resistenzgen untersucht. Dabei wurde “relativ häufig” der neue Resistenz-Mechanismus nachgewiesen, am häufigsten bei Escherichia coli von Mastgeflügel. Bakterien können dieses plasmidgebundene Gen besonders leicht untereinander austauschen und so Resistenzen leichter weitergeben.
Zu erwarten ist deshalb, dass die Europäischen Behörden – um die Wirksamkeit des gerade für die Humanmedizin wiederentdeckten Wirkstoffs möglichst lange zu erhalten – Colistin in die für die Humanmedizin wichtigste „Highest Priority Critically Important“-Antibiotikagruppe hochstufen.
Die EMA hat eine entsprechende Neubewertung angekündigt. Sie soll binnen sechs Monaten abgeschlossen sein.

„The update will take into account the importance of colistin to human and veterinary medicine, the impact of resistance, the availability of alternative treatments and the effectiveness of possible risk management measures for the protection of public and animal health in Europe.“
(EMA Ankündigung einer Colistin-Neubewertung)

Entsprechend könnte darin der Einsatz bei (Nutz)Tieren hinterfragt und womöglich stark eingeschränkt werden – wie es ja für die anderen sogenannten „Reserveantibiotika“ aktuell ebenfalls diskutiert wird.

Quellen sind direkt im Text verlinkt (orange hervorgehoben)

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Über den Autor

Annegret Wagner

Dr. Annegret Wagner (aw) hat in Gießen Tiermedizin studiert und arbeitet seit 1991 in der Großtierpraxis; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis mit Schwerpunkt Milchrind im Raum Rosenheim. Seit 2006 arbeitet sie auch als tiermedizinische Fachjournalistin. So hat sie für die VETimpulse die Nutztierthemen betreut und übernimmt diese Aufgabe auch bei wir-sind-tierarzt.de. Um nicht zum Mia-san-mia-Bayer zu mutieren, schaut sie intensiv über den Alpenrand hinaus, vorzugsweise ins englischsprachige Ausland. Kontakt: annegret.wagner(at)wir-sind-tierarzt.de
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