Der Tierarzt als Anwalt der Tiere und die möglichen Folgen

Nicht nur auf Reitturnieren – müssen Tierärzte stärker als Anwalt der Tiere auftreten? (Foto: ©WiSiTiA/hh)Nicht nur auf Reitturnieren – müssen Tierärzte stärker als Anwalt der Tiere auftreten? (Foto: ©WiSiTiA/hh)

Tierärzte sehen sich gerne in der schmeichelhaften Position der „Anwälte der Tiere“. Doch stimmt das? Die Diskussion wird in Deutschland gerade beim Thema Sportpferde heftig geführt. Doch auch ein britischer Professor fordert öffentlich: Tierärzte müssten mehr tun, um den gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden. Dabei gelte: „Keine Angst vor Konsequenzen!“

von Henrik Hofmann

Aktuell entzündet sich ein Streit darüber, wie weit Tierärzte bei Tierschutz gehen müssen oder dürfen an den Juryentscheidungen zum Tierschutzpreis des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) beim Bundeschampionat der Reiter in Warendorf. (Anm. d. Red.: Die inhaltliche Debatte darüber ist nicht Gegenstand dieses Artikels, aber nachzulesen in den Quellenangaben unten – hier geht es primär um die grundsätzliche Frage nach der öffentlichen Rolle des Tierarztes und den Konsequenzen – aufgezeigt u.a. an diesem Beispiel.)

Offener Brief als Mittel der öffentlichen Debatte

Als Jurymitglied war Dr. Kirsten Tönnies, Kleintierpraktikerin aus Hattersheim, in Warendorf eingesetzt und in dieser Funktion am Abreitplatz eingeteilt. Weil sie tierschutzrelevante Missstände vor Ort erkannte und diese aus ihrer Sicht nicht abgestellt wurden, schrieb sie nach der Veranstaltung einen offenen Brief an die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN):  „Es gab sichtbar etliche Pferde und Ponys, die eine deutlich zu enge Verschnallung mit den Folgen von Schwellungen und Blutgefäßstau aufwiesen“, sagt Kollegin Tönnies. Doch obwohl zuvor offiziell erklärt worden war, wie die Halfter zu kontrollieren sind, seien Kontrollen falsch durchgeführt worden, mit der Folge, dass die zu enge Verschnallung als Missstand hingenommen wurde. Auf den Brief (PDF-Download hier), der noch eine Reihe von weiteren Problemen auflistet, erhielt sie einerseits viel Zuspruch von Reitern und Tierärzten ….

Dr. Kirsten Tönnies (Foto © C. Bachert)

Dr. Kirsten Tönnies (Foto © C. Bachert)

„Die Verlogenheit und Feigheit der „Offiziellen“ ist erbärmlich. Obwohl ich früher selber bis S-Dressur geritten bin, sehe ich mir schon lange keine Turniere mehr an. Schöne Ritte sind die Ausnahme, Tierquälerei leider an der Tagesordnung.“
(Leserreaktion einer Reiterin auf den offenen Brief von Kollegin Tönnies)

… andererseits wurde Tönnies – die sich sowohl in der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz als auch im Tieräztlichen Forum für verantwortbare Landwirtschaft engagiert – für ihre Argumentation und ihren Gang an die Öffentlichkeit auch kritisiert. Die Kritik kommt von der FN und Reitern, aber auch aus Reihen der Tierärzte.

„Jeder Tierarzt weiß, wie schwer es manchmal sein kann, Tierschutz durchzusetzen. Danke, dass Sie nicht weggesehen haben und nun sicher einiges werden zu ertragen haben dafür, dass Sie öffentlich machen, was eigentlich jeder weiß, aber keiner wahrhaben will.“
(Leserreaktion einer Kollegin auf den offenen Brief von Kollegin Tönnies)

Grundsatzfrage für Tierärzte: Tierschutzverstöße öffentlich machen?

Für Tierärzte stellt sich also immer wieder die Frage, wie sie mit tierschutzrelevanten Themen umgehen sollen – nicht nur auf offiziellen Veranstaltungen wie Reitturnieren und Hundeausstellungen, sondern auch in der täglichen Praxis. Tierbesitzer wegen tierschutzrelevanter Probleme anzuzeigen, ist ein sensibles Thema und für Tierärzte ein Interessenkonflikt: Einerseits fällt ihnen am ehesten auf, wenn Tiere schlecht behandelt werden. Andererseits müssen sie von ihrer Arbeit leben. Kunden anzuzeigen kann Kunden kosten, fürchten sie.
Der britische Tierschutz-Professor David Main benennt das Problem auch für sein Land. Zwar mache die dortige Tierärztekammer BVA gute Arbeit – aber nur in Bereichen, die von der Öffentlichkeit positiv wahr genommen würden. Main hält fest: Die Öffentlichkeit habe ein sehr positives Bild von Tierärzten – erwarte aber von ihnen mehr, als die eigenen Interessen zu wahren. Und das sowohl auf Ebene der Verbände als eben auch in der eigenen Praxis.

Kompromisse verteidigen

Vor allem Nutztierpraktiker sind besorgt um ihr Standing bei den Kunden. Dass die Möglichkeiten zur öffentlichen Kritik differenziert gesehen werden müssen, weiss auch Kirsten Tönnies. In der komfortabelsten Situation sieht sie die Amtstierärzte, „weil sie grundsätzlich für Tierschutzarbeit bezahlt werden, Landräte können das Leben natürlich schwer machen“.
In der nächstbesten Situation befinden sich die Kleintierpraktiker, „weil sie mit Tierschutz auch Werbung machen können und weil die Zahl der Kunden höher ist, der Verlust des einzelnen Kunden also weniger schwer wiegt. Die Gesellschaft will mehr Tierschutz,“ ist Tönnies überzeugt.
Ähnlich sei es in der Pferdemedizin. Auch hier könne man bei den Kunden mit Tierschutz gewinnen, das gelte aber nicht für den Profisport.
In der Großtierpraxis sei es schwieriger, sagt Tönnies. Die Bauern seien gut vernetzt und hätten naturgemäß zunächst finanzielle Interessen.
Der Brite David Main sieht gerade hier bei den Berufsverbänden Handlungsbedarf, etwa tierschutzgerechte Haltungssysteme für Mastschweine einzufordern. Main hält es auch für notwendig, angehende Tierärzte an den Hochschulen zu sensibilisieren.

Anwalt oder Richter?

Die Gesellschaft erwarte, dass Tierärzte in jedem Feld – ob in der Praxis, der Forschung oder Lebensmittelproduktion – als Anwälte der Tiere auftreten. Diese Erwartung müssten sie dringend erfüllen, fordert der britische Tierschutzprofessor. Kritiker glauben dagegen, dass Tierärzte selbst eher dazu neigen, zu schnell die Rolle des Richters einzunehmen – und dadurch oft schon Kompromisse verteidigten und Entscheidung zu Ungunsten der Tiere verschieben – oft in Richtung Finanzen. Der Berufsstand müsse Tierwohl stärker gewichten als finanziellen Profit, fordert deshalb Professor Main – und dies möglichst offiziell in den Standesregeln.

Tierschutzengagement überzeugt leben

„Man kann Tierschutzengagement vermutlich nicht spielen“, sagt Tönnies, „man muss davon überzeugt sein!“ Sie rät, auffällige Klienten intensiv zu beraten, Nachtermine zu machen, eventuell hinterher zu telefonieren. Im Zweifel wären die Amtstierärzte einzuschalten.
Diese sind verpflichtet, Tierschutzanzeigen nachzugehen. Geschieht das nicht, kann man sich an die Aufsichstbehörde oder auch die Staatsanwaltschaft wenden.

Verspielt der Reitsport endgültig sein Ansehen?

Anregungen für den Pferdesport kommen übrigens aus den Reihen der Reiter selbst: Man solle Kleintierpraktiker einsetzen, die Pferde als Hobby haben – oder Tierärzte, die in entfernten Kreisen ihre Praxis betreiben. Denn für viele Reiter geht es nicht allein um Tierschutz, sondern um die Glaubwürdigkeit des Reitsports an sich:

„Offensichtlich will und kann die FN die eigenen Ideale nicht durchsetzen. Das Konzept des ,freudigen, fleißigen und vertrauensvollen Herantretens‘ des jungen Pferdes an die Reiterhand, welches entspannt durch den Rücken schwingt, ist eine Mär. Ganz im Gegenteil, jegliches Vertrauen wird schon im Alter von nur drei Jahren verspielt. Wer würde schon Vertrauen aufbauen und freudig kooperieren, wenn man ihn mit dem Sporn traktiert und sich dann mit zurückgelegten Schultern gegen sein zugeschnürtes Maul stemmt. Das noch junge Pferd kann sich nur in eine mentale Isolation flüchten. Die Pferde sind definitiv nicht freudig dabei und Schwung – wie ich ihn verstehe – erstirbt unter diesen Zwangsmaßnahmen.“
(Zitat aus dem Brief eines Reiters an Kollegin Tönnies)

Die Angst um den eigenen Vorteil ist kein Argument

Kollegin Tönnies hat – aus Sicht der wir-sind-tierarzt-Redaktion – einer schwelenden Diskussion einen weiteren Impuls gegeben: Tierschutz immer nur von den Landwirten einzufordern, mit dem Finger auf andere zu zeigen, reicht  nicht mehr, um „Anwalt der Tiere“ zu sein. Auch im Bereich Sport- und Hobby- und Haustierhaltung sind Tierärzte gefordert, „Kante“ zu zeigen.
Und in einem wichtigen Punkten sind sich David Main und Kirsten Tönnies einig: Die Angst um den eigenen Vorteil ist kein Argument. Die Öffentlichkeit erwartet, dass sich Tierärzte zum Tierschutz bekennen.

Quellen:
Die Rolle als Anwalt der Tiere verbessern – Thesen des britischen Tierschutzprofessors David Maine 
„Offenen Brief“ von Dr. Kirsten Tönnies an die FN  – (PDF-Download)
Antwort der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) auf den Offenen Brief – (im Reitermagazin St. Georg)
Berichterstattung in der WELT zu dem Thema mit Kritik der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz am Offenen Brief*
(*Anm.d.Red.: In der TVT gibt es derzeit einen Richtungsstreit um deren berufspolitische Ausrichtung)

Beitragsbild: Nicht nur auf Reitturnieren – müssen Tierärzte stärker als Anwalt der Tiere auftreten? (Foto: ©WiSiTiA/hh)

Video-Interview mit Dr. Kirsten Tönnies (You Tube – Kanal „Pferde Connection“)

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Über den Autor

Dr. Henrik Hofmann

Dr. Henrik Hofmann (hh) betreibt seit 1995 eine eigene Tierarztpraxis in Butzbach. Er ist Fachtierarzt für Allgemeine Veterinärmedizin und hat die Zusatzbezeichnung Akupunktur. (www.tierundleben.de) Als Autor und Redakteur hat Hofmann in etlichen Zeitschriften und Zeitungen rund ums Tier geschrieben. Bei wir-sind-tierarzt.de betreut er schwerpunktmäßig Medizinthemen, den Bereich Praxismanagement und die Rubrik Mensch-Tierarzt. Außerdem steuert er die SocialMedia-Aktivitäten und leitet die Bildredaktion. Zuletzt ist sein Buch „Tieren beim Sterben helfen – Euthanasie in der Tierarztpraxis“ erschienen. Kontakt: henrik.hofmann(at)wir-sind-tierarzt.de
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