Einzelfall oder Standard: Die Schlachtung trächtiger Rinder

Hochträchtige Kuh – beim Umtreiben in Trockensteherbereich hat sie sich das Hinterbein gebrochen – ein unstrittiger Fall für die Schlachtung.Hochträchtige Kuh – beim Umtreiben in Trockensteherbereich hat sie sich das Hinterbein gebrochen – ein unstrittiger Fall für die Schlachtung. (Foto: © WiSiTiA/aw)

Rinder werden unerkannt trächtig am Schlachthof angeliefert, wo die ungeborenen Kälber dann bei der Schlachtung ersticken. Dieses Problem, beschäftigt seit einiger Zeit sowohl tierärztliche Organisationen als auch politische Parteien. Die Forderung lautet: Die Schlachtung gravider Tiere zu verbieten. Doch was sagen die Daten? wir-sind-tierarzt gibt im ersten Teil einer Artikelserie eine Übersicht der vorliegenden Untersuchungen und Initiativen.

Hinweis: Seit 1.1.2017 gilt in Deutschland ein Schlachtverbot was zu beachten ist, lesen Sie hier.
Eine Übersicht aller Artikel zum Thema „Schlachtung trächtiger Tiere“ finden Sie hier.

Eine Übersicht von Annegret Wagner und Jörg Held
(siehe auch Teil 2 der Artikelserie: Wann kommt ein Schlachtverbot und wie wird es gestaltet)

Einzelfälle oder regelmäßiger Missstand? Das ist die Frage, die Tierärzte und Politik bei diesem Thema beschäftigt: 180.000 trächtige Rinder – und damit auch ihre Föten – würden jährlich an deutschen Schlachthöfen angeliefert und getötet. Diese hohe Zahl schätzt die Bundestierärztekammer (BTK) und forderte schon Anfang 2014: Das dürfe man aus ethischen Gründen nicht akzeptieren. Deshalb „muss (es) ein grundsätzliches Verbot der Schlachtung tragender Färsen und Kühe geben. Ausnahmen müssen vom Gesetzgeber geregelt werden.“

Politik reagiert auf Medienberichte

Spätestens nach Medienberichten (exemplarisch hier im NDR) hat auch die Politik das Thema aufgegriffen: Die Bundesregierung bestätigt das Problem in einer Antwort auf eine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen aus dem Mai 2014. Die Grünen kritisierten Bundesagrarminister Christina Schmidt für sein „zögerliches Vorgehen“. Im Bundeslandwirtschaftsministerium aber will man dieses Problem EU-einheitlich geregelt sehen. Außerdem bestehe noch Forschungsbedarf.
Die Grünen sehen dagegen deutlich mehr nationalen Handlungsspielraum. So forderten die grünen Landwirtschaftsminister in NRW und Niedersachsen ein Verbot der Schlachtung trächtiger Tiere (Quellen siehe Artikelende).

Wie belastbar sind die Zahlen?

Was bleibt, ist die Frage: Besteht wirklich (politischer) Handlungsbedarf? Sind die Zahlen tatsächlich so hoch und was lässt sich dagegen tun? Eigentlich erscheint es unwahrscheinlich, dass ein Landwirt trächtige Tiere schlachten lässt. Zumal die Fruchtbarkeit bei Milchkühen schon lange zu wünschen übrig lässt. Die Bauernverbände bezweifeln denn auch, dass Tierhalter trächtige Tiere ohne triftigen Grund wissentlich zur Schlachtung geben. Aber auch sie lehnen diese Praxis grundsätzlich ab. Und auch der Grüne Agrarpolitiker Friedrich Ostendorff, selbst Rinderhalter, hält fest: „Wir gehen davon aus, dass es bedauerliche Einzelfälle sind und nur wenige Tierhalterinnen und Tierhalter wissentlich trächtige Tiere zum Schlachthof schicken. Diese jedoch bringen Schande über ihren gesamten Berufsstand.“

Kein Einzelfall: Bis zu 15 Prozent trächtige Rinder am Schlachthof

Einen hohen Anteil trächtiger Rinder auf 53 Schlachthöfen ermittelte eine Studie 2011 – und löste damit eine politische Debatte aus.

Einen hohen Anteil trächtiger Rinder auf 53 Schlachthöfen ermittelte eine Studie 2011 – und löste damit eine politische Debatte aus. (Foto: Vortrag M. Freitag/AVA 2015)

Hauptauslöser der (politischen) Debatte ist eine Erhebung von Prof. Dr. Katharina Riehn und Kollegen (2010/2011) in der sie die Daten aus 53 Schlachthöfen aufbereitete. Je nach Schlachthof waren in ihrer Erhebung bis zu 15 Prozent (0,2 % bis 15 %) der pro Jahr angelieferten Rinder trächtig. 90 Prozent davon befanden sich  im zweiten und dritten Trächtigkeitsdrittel. Ausgehend von diesen Daten wäre die Schlachtung gravider Rinder kein selten vorkommendes, unbeabsichtigtes Ereignis. Stattdessen gehen die Autoren davon aus, dass die Mehrzahl der tragende Tiere bewusst der Schlachtung zugeführt wurde.
Ein Großteil der Tiere habe sich im mittleren oder letzten Drittel der insgesamt neun Monate dauernden Trächtigkeit befunden, heißt es. Experten gehen davon aus, dass Föten zumindest in diesem letzten Drittel schmerzempfindlich sind und leiden – besonders bei der Schlachtung. Denn das Muttertier wird dabei zwar betäubt, nicht aber die Föten: Sie ersticken aufgrund von Sauerstoffmangel.

180.000 Rinder pro Jahr betroffen?

Auch die Bundesregierung schätzt in ihrer Antwort an die Grünen die Zahl auf etwa zehn Prozent bzw. 180.000 trächtige Rinder pro Jahr (und bezieht sich dabei auf die BTK-Aussage/Riehn-Studie). Sie zitiert außerdem Erhebungen der Fleischwirtschaft e.V. aus dem jeweils ersten Quartal in 2013 und 2014. Demnach waren etwa 3,5 Prozent trächtige Tiere unter den weiblichen erwachsenen Rindern (1.531 von 43.141 Tieren). 56 Prozent der hier erfassten Kühe (858 Tiere) befanden sich im zweiten und dritten Trächtigkeitsdrittel. Allerdings räumt die Bundesregierung ein, dass die Unterschiede in der Methodik es unmöglich machen, die beiden Studien zu vergleichen. Bisher lägen auch keine Angaben darüber vor, ob die Landwirte tatsächlich immer von der Trächtigkeit der Tiere gewusst haben.

Übersichtsstudie findet niedrigere Fallzahlen

Das Problem der Schlachtung gravider Rinder ist nicht neu. Professorin Dr. Mechthild Freitag aus dem Fachbereich Agrarwissenschaft der Fachhochschule Südwestfalen hat sieben Studien aus den letzten 20 Jahren ausgewertet, die sich mit dieser Fragestellung befasst haben (Details siehe Bilderstrecke) und diese auf der 15. AVA-Haupttagung Ende März 2015 vorgestellt.

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Werte von über zehn Prozent gravider Kühe fanden sich – neben der bereits zitierten Riehn-Studie – nur noch zwei Mal in den Untersuchungen. Die neueste – und umfangreichste – Untersuchung von Braunmiller hat von Januar 2013 bis September 2014 Befunde von 59.335 Kühe an deutschen Schlachthöfen ausgewertet: Mit deutlich niedrigeren Graviditätsraten. Für 2013 ermittelte Braunmiller einen Anteil von 1,1 Prozent hochträchtiger Kühe, im Jahr 2014 waren es sogar nur 0,81 Prozent. Das wären hochgerechnet etwa 18.600 hochträchtig geschlachtete Rinder – bezogen auf die im Jahr 2013 in Deutschland   geschlachteten 1.217.644 Kühe und 472.077 weibliche Jungrinder (über 12 Monate alt, noch nie gekalbt – Quelle Destatis).

Große Unterschiede zwischen den Schlachthöfen

Allerdings zeigt der Literaturvergleich von Prof. Freitag, dass die Zahlen zwischen verschiedenen Schlachthöfen stark schwanken: Zwischen null und 10,8 Prozent gravider Rinder lagen die Ergebnisse. Die durchschnittlichen Werte verschiedener Studien (Lücker et al., 2003; di Nicolo, 2006) pendelten um 4,5 Prozent gravider Schlachttiere. Eine neue Studie aus der Schweiz (BVL/2012) kommt auf 6,3 Prozent trächtige Rinder im 5. bis 7. Trächtigkeitsmonat und auf 1,56 Prozent hochträchtige Tiere (mindestens 7 Monate trächtig).

Unwissende Tierhalter: 70 Prozent der Trächtigkeiten nicht erkannt

Hochträchtige Kuh – beim Umtreiben in Trockensteherbereich hat sie sich das Hinterbein gebrochen – ein unstrittiger Fall für die Schlachtung.

Hochträchtige Kuh – beim Umtreiben in Trockensteherbereich hat sie sich das Hinterbein gebrochen – ein unstrittiger Fall für die Schlachtung. (Foto: © WiSiTiA/aw)

Die Schweizer Untersuchung, die allerdings nur auf einem Schlachthof basiert, ergab, dass 70 Prozent der Besitzer nichts von der Trächtigkeit ihrer Tiere gewusst haben. Auch Braunmiller vermutet in erster Linie Managementfehler, die zur Schlachtung hochträchtiger Kühe führen – wobei unter Umständen die Trächtigkeit sogar bekannt sei, aber auf die Schlachtentscheidung keinen Einfluss habe.

Wissentlich gehen in der Regel nur trächtige Kühe zum Schlachten, bei denen zu erwarten ist, dass das Tier die Trächtigkeit nicht qualfrei durchsteht. Hier sind in erster Linie Probleme des Bewegungsapparates zu nennen, die das Aufstehen und Laufen der Kühe betreffen. Dazu kommen frisch verletzte Tiere, bei denen eine Behandlung nicht möglich ist (z.B. Knochenbrüche – siehe Foto). Aber auch wenn notwendige therapeutische Maßnahmen unwirtschaftlich erscheinen (Euterverletzungen, Mastitiden) werden trächtige Tiere geschlachtet.

Kein rechtlicher Schutz für ungeborene Kälber

Problematisch bei der Schlachtung trächtiger Rinder ist die Weise, auf die die Kälber im Mutterleib sterben. Im Gegensatz zu früher, darf am Schlachthof keine Entwicklung eines lebenden Kalbes mehr erfolgen – es zählen nur Tierschutzbelange des Muttertieres und der Verbraucherschutz. So sterben die Feten nach dem Tod ihrer Mutter im normalen Schlachtbetrieb durch Hypoxie und sind dann bei der Eviszeration des Muttertieres bereits tot. Ein tierschutzgerechtes Töten mit einer Betäubung der Feten ist nicht möglich.
Das ganze ist dennoch kein Verstoß gegen das Tierschutzgesetz, denn es bezieht keine ungeborenen Tiere ein. Für Feten gibt es daher keinen gesetzlich verankerten Schutz.
Bei den hochträchtigen Tieren wird es aber Verstöße gegen die VO (EG) Nr. 1/2005 geben. Diese verbietet den Transport von Tieren im fortgeschrittenen Graviditätsstadium (> 90 Prozent). Aber auch diese Verstöße gegen die deutsche Tierschutztransportverordnung sind weder straf- noch bußgeldbewehrt, eine Ahndung von Verstößen kann nur nach den grundsätzlichen Verbotsnormen des Tierschutzgesetzes erfolgen.

Hormonbelastung nicht relevant

Aus fleischhygienischer Sicht schwanken die gemessenen Steroidhormonwerte so stark, dass eine Gefährdung für den Menschen gering erscheint. Riehn et al. fanden im dritten Trimester Östradiol-17β-Werte, die teilweise deutlich über, teilweise aber auch deutlich unter denen von nicht-graviden Rindern lagen.

Dokumentation von Trächtigkeitsuntersuchungen verbessern

Zumindest die unwissentliche Schlachtung von trächtigen Rindern muss unterbunden werden. Darüber besteht sowohl im Bundestag als auch in den Stellungnahmen der Tierarztverbände oder auch des  Schweizer Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen Einigkeit. Lösungsansatz wäre ein verbesserte Dokumentation der Trächtigkeitsuntersuchungen und ein besserer Datenaustausch zwischen Schlachthof und Tierhalter.

  • In Deutschland wäre es denkbar, dass der Trächtigkeitsstatus der weibliche Rinder erfasst (in QM-zertifizierten Betrieben sollten die Daten vorliegen) und an den Schlachthof weitergeleitet werden muss.
  • Schwieriger ist es bei Mast- oder Mutterkuhbetriebe, in denen unter Umständen geschlechtsreife weibliche und männliche Tiere gemeinsam gehalten werden und es zu Natursprüngen kommen kann.
  • Auch Mastbetriebe, die weibliche (potentiell nicht-gravide) Milchkühe kaufen und für die Schlachtung ausmästen, sollten vor der Schlachtung sicher stellen, dass die Tiere auch wirklich nicht trächtig sind.
  • Schlachhofintern wäre es wünschenswert, trächtige Rinder zu erfassen und ihre Herkunft zu überprüfen. Häufen sich Fälle aus einzelnen landwirtschaftlichen Betrieben, könnten diese gezielt beraten werden.
  • Bisher ist noch nicht geplant, weibliche Rinder ab dem 187. Trächtigkeitstag generell als schlachtuntauglich zu bewerten, wie es die Grünen fordern, obwohl die Kälber beim Ersticken vermutlich Schmerzen und Leiden erfahren.

 Teil 2 der Artikelserie erläutert, wie ein Schlachtverbot für hochtragende Nutztiere aussehen wird, warum es wohl erst 2018 kommt und was in der Übergangszeit geschieht

Quellen

 

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Über den Autor

Annegret Wagner

Dr. Annegret Wagner (aw) hat in Gießen Tiermedizin studiert und arbeitet seit 1991 in der Großtierpraxis; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis mit Schwerpunkt Milchrind im Raum Rosenheim. Seit 2006 arbeitet sie auch als tiermedizinische Fachjournalistin. So hat sie für die VETimpulse die Nutztierthemen betreut und übernimmt diese Aufgabe auch bei wir-sind-tierarzt.de. Um nicht zum Mia-san-mia-Bayer zu mutieren, schaut sie intensiv über den Alpenrand hinaus, vorzugsweise ins englischsprachige Ausland. Kontakt: annegret.wagner(at)wir-sind-tierarzt.de
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