Fruchtbarkeitsmanagement bei Milchkühen – quo vadis ?

Dank gesextem Sperma gibt es in den USA genug weibliche Kälber. So gehen die Remontierungsraten bei Milchkühen in Richtung 50 Prozent, weil Landwirte glauben, jede nachfolgende Generation gebe mehr Milch. Ein Tierarzt will – auch mit Blick auf die Tierschutzdiskussion in Europa – deshalb eine Debatte über den Sinn und Unsinn von optimierten Fruchtbarkeitsprogrammen anstoßen. 


Die Nutzungsdauer einer Kuh liegt in den USA in vielen gut geführten Betrieben unter drei Laktationen beziehungsweise unter fünf Lebensjahren. Das kurze Leben der Kühe hat aber nichts mit Krankheiten zu tun. Im Gegenteil: Es ist eine Folge von „gutem Management“. Mit diesem hat sich der Tierarzt Dr. Paul R. Biagiotti, Reproduktionsexperte aus Jerome in Idaho, in der Hoards Dairyman-Ausgabe vom 10. April beschäftigt.

Nachzucht genetisch überlegen?

Das angestrebte Erstkalbealter liegt in den USA bei 22 bis 24 Monaten und wird in der Regel durch Hormonprogramme und automatische Brunsterkennungssysteme auch realisiert. Durch den Einsatz von gesextem Sperma liegt der Anteil weiblicher Kälber in manchen Betrieben bei über 90 Prozent. Damit steht ausreichend weibliche Nachzucht zur Verfügung. Das wiederum (ver)führt in Extremfällen zu Remontierungsraten von bis zu 43 Prozent – einfach, weil die Tierhalter davon ausgehen, dass die Nachzucht der Vorgängergeneration genetisch überlegen ist, sprich mehr Milch geben wird. Ältere Tiere werden also nicht primär abgeschafft, weil sie krank sind, sondern weil es potentiell bessere Nachfolger gibt.

„Höchstmaß an Effektivität“

Die landwirtschaftlichen Berater sehen so etwas gerne und meinen, so das Höchstmaß an Effektivität erreicht zu haben. Aber Dr. Biagiotti setzt sich – wie er in seinem Text immer wieder betont – als Tierarzt auch mit gesellschaftlichen Debatten auseinander. Die Lebensbedingungen der Nutztiere sind da – nicht nur in Europa – ein Thema. Dazu gehört auch die Lebenszeit als ein Qualitätskriterium. Biagotti weiss auch, dass Kühe erst ab der dritten Laktation physiologisch voll ausgreift sind und optimale Leistungen bringen können. Diese Tatsache und dass Milchkühe deshalb oft viel zu früh geschlachtet werden, ignorieren landwirtschaftliche Berater und auch Tierärzte auf beiden Seiten des Atlantiks gerne. Biagiotti begrüßt daher die europäische Forderung nach Anhebung der Nutzungsdauer.

Reproduktionsziele zurückfahren

Das bedeutet für ihn aber gleichzeitig, dass die ehrgeizigen Reproduktionsziele „zurückgefahren“ werden müssen, denn es werden längst nicht so viele weibliche Jungtiere gebraucht, wie zur Zeit (zumindest in den USA) erzeugt werden. Außerdem plädiert er dafür, ausgewählte Kühe lieber mit gesextem (= männlichen) Sperma von Fleischrinderrassen zu besamen. So stünden Bullenkälber mit gutem Muskelansatz für die Fleischproduktion zur Verfügung. Diese Idee würde elegant auch das Problem mit männlichen Kälbern reiner Milchrinderrassen lösen, denn diese haben so gut wie keinen Wert und werden entsprechend behandelt. Durch gesextes Sperma nur weibliche Kälber zu produzieren ist aber offensichtlich auch keine (gute) Lösung.

Milchgabe mit Hormonen steuern

Zur Verringerung der Kälberproduktion hat Dr. Biagiotti noch eine weitere Idee, die allerdings nur in den USA legal umgesetzt werden könnte. Er will ältere Kühe in eine Art Ruhestand schicken, das heisst, diese Kühe werden nicht mehr besamt, ihnen sollen die Strapazen von Trächtigkeit und Geburt erspart bleiben. Damit sie aber trotzdem weiter Milch produzieren und es sich lohnt, sie in der Herde zu halten, befürwortet er den Einsatz von bovinem Somatotropin (rBST). Der Einsatz von rBST ist in Europa verboten.
Bovines Somatotropin wird in der Hirnanhangsdrüse gebildet und ist ein Wachstumshormon, das gleichzeitig die Milchproduktion verbessert. 1994 brachte die Firma Monsanto unter dem Namen Posilac® ein Somatotropin auf den Markt, das von gentechnisch veränderten Bakterien produziert wird. Das „r“ steht für „rekombinant hergestellt“. Mittlerweile hat Monsanto das Präparat an die Firma Elanco verkauft. Posilac® besitzt weder eine Zulassung für Kanada noch für Europa und in den USA selbst wird der Posilac®-Einsatz von Verbrauchern auch nicht gern gesehen. Viele Milchprodukte enthalten den Hinweis: „no rBST“.
Hier zeigt sich einmal mehr ein Zielkonflikt zwischen ökonomischen Zwängen (keine Milch ohne Kalb), Tierschutz, Verbrauchererwartung und medizinisch Möglichem.

Sinn oder Unsinn von Fruchtbarkeitsprogrammen

Dr. Biagiotti weiss, dass seine Ideen provokant sind und hofft daher, eine Diskussion über den Sinn und Unsinn von optimierten Fruchtbarkeitsprogrammen anzustoßen. Noch sind die Betriebe mit den „Luxusproblemen“ bei der Tierauswahl nicht in der Überzahl. Doch aufgrund eigener Erfahrungen kann er zeigen, dass die allgemein propagierten Kennzahlen zum Fruchtbarkeitsmanagement von Rindern früher oder später zu diesem und anderen Problemen führen.

wir-sind-tierarzt meint:

(aw) – Für uns Europäer, die wir teilweise noch weit von den US-amerikanischen Verhältnissen entfernt sind, können diese Überlegungen nur bedeuten, dass wir unsere landwirtschaftliche Beratung umstellen sollten und nicht blind die gleichen Fehler (nach)machen wie US-Amerikaner.
Vor allem die ständige Absenkung des Erstkalbealters von Rindern bringt langfristig nicht den Erfolg, den sich Landwirte und Berater versprechen: Die physiologische Reife der Tiere ist erst im vierten Lebensjahr abgeschlossen. Erst dann wird die optimale Milchleistung erreicht und die Kuh „verdient“ wirklich Geld.

Und auch die in der Tierschutzdebatte noch vergleichsweise gut dastehenden Milchbauern sind gut beraten, gesellschaftliche Entwicklungen im Auge zu behalten und früh zu reagieren. Die Forderung der Verbraucher, Kühen eine längere Lebensdauer zu ermöglichen und Kälber ethisch vertretbar zu behandeln, sollten dazu führen, das Zuchtmanagement nicht weiter auf eine möglichst schnelle Besamung auszurichten.

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Über den Autor

Annegret Wagner

Dr. Annegret Wagner (aw) hat in Gießen Tiermedizin studiert und arbeitet seit 1991 in der Großtierpraxis; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis mit Schwerpunkt Milchrind im Raum Rosenheim. Seit 2006 arbeitet sie auch als tiermedizinische Fachjournalistin. So hat sie für die VETimpulse die Nutztierthemen betreut und übernimmt diese Aufgabe auch bei wir-sind-tierarzt.de. Um nicht zum Mia-san-mia-Bayer zu mutieren, schaut sie intensiv über den Alpenrand hinaus, vorzugsweise ins englischsprachige Ausland. Kontakt: annegret.wagner(at)wir-sind-tierarzt.de
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