Wie definieren EU, USA und WHO die wichtigen Anti­biotika­gruppen

Wie wichtig ist ein Antibiotikum für den Menschen? – Die Grafik zeigt, wo sich WHO und FDA bei der Einstufung einig sind und wo nicht.Wie wichtig ist ein Antibiotikum für den Menschen? – Die Grafik zeigt, wo sich WHO und FDA bei der Einstufung einig sind und wo nicht. (Grafik: @Benchmark Sustainability Science)

Welche Antibiotika gehören zur „Reserve“, welche sind „kritisch“, welche „wichtig“ oder gar „vital“? Die Begrifflichkeiten geraten in der öffentlichen Debatte manchmal munter durcheinander. Dabei wäre es „critically important“ hier endlich eine Sprache zu sprechen: medizinisch sowieso, aber auch politisch und zunehmend sogar wirtschaftlich. Der Versuch einer Übersicht. 

Update 6/2017: Die WHO hat eine Liste der für die Humanmedizin wichtigen „Reserveantibiotika“ vorgelegt und alle Antibiotika kategorisiert – mehr hier

von Annegret Wagner und Jörg Held

Immerhin, es gibt weltweit zumindest Einigkeit darüber, dass drei Antibiotikagruppen grundsätzlich für die Humanmedizin von herausragender Bedeutung sind: die Fluorchinolone, die Cephalosporine der 3. und 4. Generation sowie (mit Abstrichen) die Makrolide. Doch bei der Gewichtung und wenn es über diese Wirkstoffe hinaus geht haben die USA ein anderes Wording als die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Und auch bei den europäische Institutionen gibt es Formulierungsabweichungen. Deutsche Landespolitiker entwickeln sowieso fast immer auch noch eigene Meinungen.

Die Welt kennt keine Reserveantibiotika

So ist das in Deutschland fast schon als „Kampfbegriff“ benutzte Wort „Reserveantibiotika“ weder national noch international definiert. Schon gar nicht in der Auslegung, die Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter so formuliert hat: “Reserveantibiotika sind Antibiotika, die normalerweise nicht eingesetzt werden sollten, außer ein Mensch ist von einem multiresistenten Keim befallen … um das Leben dieses Menschen zu retten, wird dann ein sogenanntes Reserveantibiotikum eingesetzt.“
Übersetzt ins international übliche Englisch, könnte man dieses deutsche „Reserveantibiotika“ eventuell als „last resort antibiotics“ bezeichnen. Doch auch dieser Begriff ist weder üblich noch definiert. Grundlage einer sachlichen Debatte sollten zumindest die WHO-Kriterien sein:

Das Antibiotika-Ranking der WHO

Das Bedeutungsranking der WHO basiert auf einem zwei-Stufen System. Zunächst hat sie zwei Kriterien definiert, mit denen die Bedeutung eines Antibiotikums für die Humanmedizin bewertet wird. Basierend auf diesen Kriterien werden die Wirkstoffe dann wiederum drei Kategorien zugeordnet: Erfüllt ein Antibiotikum gleich beide Kriterien ist es „Critically Important“; bei einem Kriterium ist es nur noch „Highly Important“; trifft kein Kriterium zu, bleibt es dennoch „Important“.
Die Wirkstoffe können über die Zeit abhängig von der Resistenzlage und der Verfügbarkeit von Alternativen auch in eine andere Kategorie „wechseln“ (Details zu dieser Klassifizierung sind nachzulesen in diesem WHO-Dokument ab Seite 5ff).
Zusätzlich hat die WHO angesichts der zunehmenden Multiresistenzen die Möglichkeit geschaffen, Wirkstoffe innerhalb der wichtigen „critically important“-Kategorie als noch einmal besonders bedeutend einzustufen (Prioritization). Diese absolute „Top-Kategorie“ der Bedeutung für die Humanmedizin heißt: „Highest Priority Critically Important“.

Welches Antibiotikum fällt in welche Kategorie?

  • „Highest Priority Critically Important“ – zu dieser Gruppe der aus WHO-Sicht absolut wichtigsten Antibiotika gehören vier Wirkstoffe: die Fluorchinolone, die Cephalosporine der 3. und 4. Generation und – für manche überraschend – die Makrolide sowie die Glykopeptide.
  •  „Critically Important“ – hier stuft die WHO 15 Wirkstoffklassen ein, darunter die vier oben genannten – die ja nur noch einmal gesondert hervorgehoben wurden – sowie alle in der Veterinärmedizin eingesetzten Penicilline, Aminopenicilline und Aminoglykoside. Aber auch die relativ „neuen“ Carbapeneme, die in der Tiermedizin nicht verwendet werden (dürfen), sind hier eingeordnet (vollständige WHO-Tabelle ab Seite 9ff in diesem Dokument). Auch Colistin (ein Polymyxin) wurde 2011 aufgrund fehlender Behandlungsalternativen in der Humanmedizin von der WHO in diese critically-Kategorie „hochgestuft“.
  • „Highly Important“ – sind für die WHO u.a. Amphenicole, Sulfonamide und Tetracycline.
  • „Important“ sind alle anderen Antibiotika.

Die Einschätzung der US-Arzneimittelzulassungsbehörde FDA

Wie immer bei weltumspannenden Organisationen wird deren Vorgaben zwar ein gewisser Definitions- und Orientierungswert zugestanden, letztlich halten sich die Nationalstaaten aber eher selten zu 100 Prozent verbindlich daran. So hat zum Beispiel die US-Arzneimittelzulassungsbehörde FDA zwei eigene Bedeutungsklassen eingeführt:

  • „Critical“ für als besonders wichtig eingestufte Antibiotika und
  • „Medically Important“ für die übrigenWirkstoffe

Die folgende Grafik zeigt, wo sich die Einstufungen von WHO und FDA einig sind und wo sie abweichen (Quelle: Benchmark Sustanability Science).

 

Wie wichtig ist ein Antibiotikum für den Menschen? – Die Grafik zeigt, wo sich WHO und FDA bei der Einstufung einig sind und wo nicht.

Wie wichtig ist ein Antibiotikum für den Menschen? – Die Grafik zeigt, wo sich WHO und FDA bei der Einstufung einig sind und wo nicht. (Grafik: @Benchmark Sustainability Science)

Die FDA kann/will also zum Beispiel der Aufwertung der Glykopeptide durch die WHO in die höchste Stufe nicht folgen. Dafür wiederum halten die Amerikaner – anders als die WHO – die Trimethoprim-Sulfonamid-Kombinationen für sehr wichtig (Critical). Die FDA unterscheidet also nur zweistufig, während die WHO-Kategorisierung mit vier Stufen detaillierter ausfällt. Beides trägt allerdings nicht zur dringend nötigen internationalen Vergleichbarkeit bei.

Eine Übersicht über die US-Debatte zu antimikrobiellen Resistenzen aus der Landwirtschaft gibt eine Themenseite auf thepigsite.com.

Das europäische Wording

Die Europäische Arzneimittelagentur EMA und die European Food Safety Authority (EFSA) verwenden in ihren Papieren überwiegend den WHO-Begriff der „Critically Important Antibiotics“ und nennen dabei immer die Fluorchinolone und die Cephalosporinen der 3. und 4. Generation, aber auch das Makrolid Erythromycin (EFSA Resistenzmonitoring).
Eine eindeutige Übersichtstabelle, welche Wirkstoffe die Europäischen Institutionen letztlich genau wo einordnen, konnten wir aber nicht finden (für Hinweise ist die Redaktion dankbar: zentrale @wir-sind-tierarzt.de).
Allerdings hat sich die EMA mit dem Einfluss der in der Tiermedizin eingesetzten Antibiotika auf die „Öffentliche Gesundheit“ befasst und dazu verschiedene Papiere veröffentlicht. In einem bewertet sie das Risiko in drei Kategorien (Stand 12.2014): Es gebe Wirkstoffe mit einem

  • „currently higher estimated risk for public health“ – hier finden sich wieder die Fluorchinolone, die Cephalosporine (3./4. Generation) aber auch Aminoglycoside und Aminopenicilline.
  • „currently low or limited risk for public health“ – hier sind u.a. Macrolide und Polymyxine (Colistin) aufgelistet, aber auch Penicilline und Tetracycline.
  • Eine Dritte Gruppe umfasst die nicht für die Veterinärmedizin zugelassenen Produkte, etwa die Carbapeneme und auch Glycopeptide.

Die WHO-Kategorisierung wird in diesem Papier als „hilfreich zur Risikobewertung bezeichnet“, sei aber nicht die einzige Grundlage für Risiko-Management-Strategien („It is not intended to be used as the sole source of information for developing risk management strategies“ – S. 17).

Verbote in Deutschland

In den Niederlanden und in Deutschland wird seit einiger Zeit auch Colistin aufgrund seiner guten Wirksamkeit gegen Acinetobacter baumannii als „Reserveantibiotikum“ bezeichnet – zum Beispiel vom Landwirtschaftsministerium Rheinland-Pfalz (basierend auf einer EMA-Einschätzung aus 2013). Aber weder die WHO noch die FDA zählen Colistin zu ihren wertvollsten Wirkstoffen. Es gehört zur 1948 entdeckten Gruppe der Polymyxine, ist also keineswegs ein neuer Wirkstoff und wird seit 50 Jahren ohne Resistenzprobleme in der Veterinärmedizin eingesetzt.

Welche Medikamente sind also gemeint, wenn in Deutschland die Grünen heute (6.3.2015) in der Bundestagsdebatte eine Agrarwende fordern und dabei Reserveantibiotika aus den Nutztierställen verbannen wollen (siehe auch den Grünen „Aktionsplan Antibiotika“). Eine Verbotsforderung, die auch 9 von 16 Bundesländern auf der Amtschefkonferenz der Agrarministerien im Januar 2015 mit folgendem Wortlaut stellten: „Der Einsatz von Reserveantibiotika in der Tiermast (sollte) grundsätzlich verboten werden.“ Immerhin verlangten die Amtschefs aber auch; dass „zu diesem Zweck die als „Reserveantibiotika“ bezeichneten Gruppierungen der antimikrobiell wirksamen Arzneimittel eindeutig zu klassifizieren und zu definieren sind.“

In der März-Ausgabe des Deutschen Tierärzteblattes (S. 336) wiederum folgerten Vertreter des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), dass „Reserveantibiotika“, so wie der Begriff in der deutschen politischen Debatte verwendet werde, mit der „Critically Important“-Kategorie der WHO gleichgesetzt würden. Sie halten deshalb fest: Wenn ein Teil oder gar alle Wirkstoffe dieser Kategorie wegfallen, „würde das eine effektive Therapie in der Veterinärmedizin fast unmöglich machen.“

Weitere Artikel zum Thema „Reserveantibiotika“ auf wir-sind-tierarzt.de

Wieviel Tonnen Reserveantibiotika verbraucht die Humanmedizin (31.1.2015)
BTK-Antibiotikaleitlinien bald verpflichtend? (4.3.2015)

 

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Über den Autor

Annegret Wagner

Dr. Annegret Wagner (aw) hat in Gießen Tiermedizin studiert und arbeitet seit 1991 in der Großtierpraxis; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis mit Schwerpunkt Milchrind im Raum Rosenheim. Seit 2006 arbeitet sie auch als tiermedizinische Fachjournalistin. So hat sie für die VETimpulse die Nutztierthemen betreut und übernimmt diese Aufgabe auch bei wir-sind-tierarzt.de. Um nicht zum Mia-san-mia-Bayer zu mutieren, schaut sie intensiv über den Alpenrand hinaus, vorzugsweise ins englischsprachige Ausland. Kontakt: annegret.wagner(at)wir-sind-tierarzt.de
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