Qualität statt Quantität – stoppt biologische Höchstleistungen der Tiere

Muttersauen, fixiert im sogenannten Ferkelsschutztkorb (Foto: ©WiSiTiA/hh)Muttersauen, fixiert im sogenannten Ferkelsschutztkorb (Foto: ©WiSiTiA/hh)

In der Schweinepraktiker-Session war der Widerspruch noch eher verhalten aus den Gesichtern abzulesen. Bei der Podiumsdiskussion auf dem Niedersächsischen Tierärztetag wurde es dann deutlich: Qualität statt Quantität muss die Devise für die Nutztierhaltung werden. Einer reinen Ökonomiedebatte, die Tiere in immer höhere biologische Leistungen zwingt, müssen sich Tierärzte entgegenstellen.

Ein Meinungsbeitrag von Annegret Wagner

Prof. Steffen Hoy hatte Glück. Nachdem er in Hannover seinen Vortrag zum Thema „Aktuelle Ergebnisse zur Verbesserung des Tierschutzes in der Schweinehaltung“ gehalten hatte, blieb wenig Zeit für eine Diskussion. Dabei wäre diese dringend nötig gewesen, denn deutlicher als je zuvor lag der Widerspruch des Auditoriums gegen einige von Hoys Ausführungen in der Luft. Zu provokant waren seine stark ökonomisch geprägten Ansichten aus Sicht vieler Praktiker.

33 abgesetzte Ferkel pro Jahr kein Problem?

"33 abgesetzte Ferkel/Jahr sind kein Problem aus Tierschutzsicht."

„33 abgesetzte Ferkel/Jahr sind kein Problem aus Tierschutzsicht.“ (Foto: @WiSiTiA/aw – Vortrag Hoy)

Zunächst postulierte der Professor aus Gießen, dass aus Tierschutzsicht selbst Wurfgrößen von 16 lebenden Ferkeln, beziehungsweise 32 bis 33 abgesetzte Ferkel pro Jahr, grundsätzlich kein  Problem darstellen. Allerdings gab der Kollege zu, dass die Betreuung der Sauen dann auch überdurchschnittlich gut sein muss. Bei einzelnen größeren Würfen hält er die mutterlose Aufzucht für gerechtfertigt. Doch was „einzeln“ bedeutet, wird nicht näher definiert. Erst ab durchschnittlich 17 gesamt geborenen Ferkeln pro Wurf sieht Prof. Hoy die Tiersituation derzeit als kritisch an.

Auf Dauer nicht genug Zitzen

Mehr Ferkel als Zitzen sind ein Problem der Zucht auf hohe Wurfleistungen.

Mehr Ferkel als Zitzen sind ein Problem der Zucht auf hohe Wurfleistungen. (Foto: ©WiSiTiA/hh)

Für diese Einschätzung hagelte es reichlich Kritik, denn die Sauen haben in den seltensten Fällen 16 funktionierende Gesäugekomplexe, selbst wenn mittlerweile häufiger Sauen mit 16 Zitzen zum Zuchteinsatz kommen. Doch auch Zitzenverletzungen und damit verbundene Ausfälle von Milchdrüsen spielen auf längere Sicht eine große Rolle, wie Hoy selbst dokumentierte. Je älter eine Sau wird, desto weniger funktionierende Gesäugekomplexe hat sie in der Regel auch. 16 Ferkel pro Wurf erscheinen daher den meisten Kollegen als viel zu viel. Schließlich sollten alle Ferkel so viel Kolostrum wie möglich aufnehmen können, ohne ständig um Zitzen kämpfen zu müssen. Das ist schon bei 14 Ferkeln schwierig.

„Ohne Mehrleistung sterben die Betriebe“

Hoy zog aus seinem Vortrag den Schluss: „Angesichts der gegenwärtig extrem niedrigen Schweinepreise und der nicht kostendeckenden Ferkelerzeugung und Schweinemast ist Augenmaß bei der Durchsetzung weiterer Tierschutzmaßnahmen einzufordern.“ Die Betriebe bräuchten mehr Leistung, sonst könnten sie wirtschaftlich nicht überleben.

Das „WARUM?“ konnte man aus den Gesichtern vieler Kollegen ablesen. Und auch ich frage mich: Warum sollen Sauen immer mehr Ferkel gebären? Die Ferkelwürfe sind so groß wie nie, die Menge der abgesetzten Ferkel auch. Den Bauern aber geht es finanziell schlechter als früher, die Schweinepreise sind im Keller. Und das kann nicht allein mit den weggebrochenen Russland-Exporten entschuldigt werden. Soll es tatsächlich der richtige Weg sein, die Leistungen der Tiere zu Lasten ihrer Gesundheit weiter steigern zu wollen? Und das bei nicht parallel steigendem Tierkomfort? Können sich Tierärzte tatsächlich derart auf die Seite der Landwirte und die angeblichen wirtschaftlichen Zwänge gegen die Interessen der Tiere stellen?

Kritik vom Evangelischen Landesbischof

"Tierärzte haben eine Berufung" – Ralf Meister, Evangelischer Landesbischof.

„Tierärzte haben eine Berufung“ – Ralf Meister, Evangelischer Landesbischof. (Foto: © WiSiTiA/aw)

Dieses Grundsatzproblem kritisierte der evangelische Landesbischof von Niedersachsen, Ralf Meister, in einer Podiumsdiskussion auf dem Tierärztetag. Meister ließ durchblicken – ohne es aber zu konkretisieren –, dass er mit dem Beruf Tierarzt auch eine „Berufung“ verbindet. Folgerichtig müsse der Tierarzt in erster Linie das Wohl der Tiere im Auge haben. Meister betonte aber, dass den Tierärzten weder Pfarrer noch Ethiker helfen können, ihren Standort zu bestimmen, sondern dass dies jeder für sich entscheiden müsse.

Scheinheilige Preisdebatte

Wieso, frage ich mich, ist in der gesamten Lebensmittelkette insbesondere die Urproduktion – also die Tierhaltung – diesem knallharten Kostendiktat der Wirtschaftlichkeit ausgesetzt? Warum, wenn zugleich Schlachthofbetreiber wie Clemens Tönnies Millionenbeträge für Fussballvereine übrig haben? Wenn die Aldi-Erben über millionenfach überteuerte Kunstkäufe prozessieren und wenn auch Uli Hoeneß sein Vermögen mit seiner Wurstfabrik sicher nicht geschmälert hat? Und: Nein, das ist keine Neiddebatte. Dem Verbraucher wird zwar immer vorgehalten, dass er durch seine Kaufentscheidung qualitativ hochwertige Tierhaltung boykottiere, aber die Höhe seiner Sonderangebotspreise legt immer noch allein der Handel fest.
Von Ende Juni 2014 bis zum Jahreswechsel ist der Schweinepreis am Schlachthof ziemlich genau um 50 Cent gefallen: Statt 1,78 € erhalten die Bauern 1,28 € pro Kilo Schlachtgewicht. Ich kann in meinem Supermarkt nicht erkennen, dass der Fleischpreis ebenfalls derart gefallen wäre. Wo bleibt die Differenz? Umgekehrt will die Lebensmittelindustrie für ihre Initiative Tierwohl jetzt 4 Cent pro Kilo Fleisch/Wurst umlegen und damit Bauern unterstützen, die mehr Tierwohlkriterien im Stall erfüllen. Irgendwie klingt das für mich recht scheinheilig und passt nicht recht zusammen.

Schluss mit Mengenwachstum

„Die Zeiten des quantitativen Wachstums müssen vorbei sein. Jetzt muss qualitatives Wachstum im Vordergrund stehen.“ Diesen Satz formulierte der Tierarzt Dr. Thomas Große Beilage auf der Podiumsdiskussion. Ihn sollten sich die Nutztierpraktiker zum Leitspruch machen – also: Nicht noch mehr Ferkel, noch mehr Milch, noch mehr Brustfleisch – stattdessen die Tiergesundheit, den Tierkomfort und die Lebensbedingungen verbessern. So verbessern, dass die bereits jetzt mögliche Leistung in Zukunft nicht mehr so stark wie bisher zu Lasten der Gesundheit und Lebensqualität der Tiere geht. Denn eines zeigt die momentane Preisentwicklung auf den Märkten – egal ob Milch oder Schwein: Offensichtlich ist eine höhere Tierleistung alleine schon längst kein Garant mehr für einen wirtschaftlichen Erfolg des Tierhalters.

Beitragsbild: Henrik Hofmann/tierundleben.de

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Über den Autor

Annegret Wagner

Dr. Annegret Wagner (aw) hat in Gießen Tiermedizin studiert und arbeitet seit 1991 in der Großtierpraxis; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis mit Schwerpunkt Milchrind im Raum Rosenheim. Seit 2006 arbeitet sie auch als tiermedizinische Fachjournalistin. So hat sie für die VETimpulse die Nutztierthemen betreut und übernimmt diese Aufgabe auch bei wir-sind-tierarzt.de. Um nicht zum Mia-san-mia-Bayer zu mutieren, schaut sie intensiv über den Alpenrand hinaus, vorzugsweise ins englischsprachige Ausland. Kontakt: annegret.wagner(at)wir-sind-tierarzt.de
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