Kommentar: Deutschland braucht unbedingt wieder Atommeiler

Zu diesem provokanten Schluss bin ich gekommen, nachdem ich den Artikel „Die Rache aus dem Stall“, veröffentlicht in der ZEIT vom 20.11.2014 gelesen habe. Mein erstauntes Fazit: So sieht Qualitätsjournalismus aus? Puh.

Ein Kommentar von Annegret Wagner

Es gibt im ZEIT-Artikel viele gute Ansätze, die aber (sprachlich) klein gehalten werden, wohl um die Gesamtaussage des Textes nicht zu gefährden. Stattdessen wird andernorts umso wilder formuliert.

Ärztlicher KunstfehlerZeit_Rache_aus_dem Stall

Schon der Einstieg ist bizarr – ein wütender Arzt, der die Infektionen seiner Patienten nicht in den Griff bekommt. Zwanzig verschiedene Antibiotika hat er angeblich an einer alten Dame ausprobiert und keines hat geholfen. Wow. Müsste sich der Berichterstatter nicht fragen, welche kleinen Monsterbakterien (ja, ich kann auch übertreiben) man mit 20 verschiedenen Antibiotika bei ein und demselben Patienten heranzüchtet? Irgendwo später im Text wird sehr zaghaft erwähnt, dass Bakterien bereits Resistenzen gegen verschiedenste Antibiotika besitzen und mit jedem Einsatz eines Antibiotikums diejenigen Bakterien leichter überleben, die eine entsprechende Resistenz besitzen.
Eine zweite Anmerkung kann ich mir auch nicht verkneifen: Wenn der Mediziner schon weiß, dass in seinem Praxisgebiet Problemkeime unterwegs sind, warum fertigt er nicht ein Antibiogramm an? Das Gleiche im beschriebenen Fall Sammer. Ein Antibiogramm hätte auch hier das „Ausprobieren“ mit seinen negativen Konsequenzen erspart.

Der aufmerksame Tierarzt befürchtet schon nach diesem Einstieg ins Thema: Hier wird mit zweierlei Maß gemessen werden.

Eine Tatsache, die sich den Autoren überhaupt nicht erschlossen zu haben scheint, ist die Abschottung der Schweine- und Hühnerställe – Fachausdruck: Biosicherheit. So sollen die Tiere vor Infektionen geschützt werden, damit – richtig – NICHT „ständig Antibiotika ins Wasser gekippt“ werden müssen. Und überhaupt: Wer Aussagen wie „…wo die Tiere…ständiger Antibiotika-Gabe ausgesetzt sind, zur Wachstumsförderung oder zur Krankheitsprophylaxe oder einfach, weil die Bauern es schon immer so gemacht haben seit es Antibiotika gibt“ formuliert, hat den roten Faden in seiner eigenen Argumentation verloren.  Schade, dass solche sprachlichen Entgleisungen anstandslos abgedruckt werden.

Quelle der Resistenzen

Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Entstehung von Resistenzen erkenne ich nicht. Antibiotika werden im größeren Stil seit dem zweiten Weltkrieg verwendet, zunächst fast ausschließlich zur Versorgung der verwundeten Soldaten. Gab es damals schon die verteufelte „Massentierhaltung“, die anscheinend zwangsläufig das ständige Verfüttern von Antibiotika beinhaltet? Kaum. Allerdings wird der im ZEIT-Artikel der (Massen)Tierhaltung zugeordnete Keim CC398 in Großbritannien erstmals Mitte de 40er Jahre nachgewiesen: beim Menschen! Vorsichtig formulieren die Engländer denn auch, die Herkunft sei „unklar“: Massentierhaltung dürfte es damals wohl eher nicht gewesen sein.

Ställe als Schutz oder als Gefängnis

Um nochmal auf die „Gefängnisse“ zurück zu kommen, in denen unsere Tiere hinter „Wellblech“ und was weiß ich was gehalten werden: Durch die Globalisierung und Tourismus kommen exotische oder in Europa ausgerottete Bakterien und Viren aus aller Welt bis in den letzten Winkel zurück. Jüngstes Beispiel: H5N8, ein Geflügelgrippevirus das eigentlich in Asien beheimatet ist, wurde entweder durch einen asiatischen Mitarbeiter oder Wildgeflügel eingeschleppt. Nur durch Abschottung unserer Tiere – bei Vogelgrippe heisst es dann Aufstallpflicht“ – vermeiden wir hässliche Bilder von brennenden Tierkadavern wie beim MKS-Ausbruch 2007 in England. In Dänemark ist es genauso: Hier sollen Tiere vor Menschen geschützt werden (wir erinnern uns: Antibiotikaeinsatz minimieren) und nicht Menschen vor Tieren.

Haltungsbedingungen verbessern – ja!

Ich möchte nicht die Problematik von großen Tiergruppen mit wenig Abstand zueinander wegdiskutieren. Es gibt Auswüchse und bessere Haltungsbedingungen sind ein enorm wichtiges Ziel – dem stimme ich uneingeschränkt zu. Doch das gleiche Phänomen haben wir bei Menschen auch. Noroviren oder Grippewellen schaffen es Jahr für Jahr den Betrieb in Schulen, Kindergärten, Altenheimen und sogar Fußballvereinen lahm zu legen – also überall dort, wo viele Personen auf begrenztem Raum zusammen sind. Solange Menschen aufgrund wachsender Überbevölkerung in Hochhäusern gehalten werden (ist das eigentlich artgerecht?), kann nicht jedes Huhn 20 Quadratmeter Auslauf haben – so viel Platz haben wir einfach nicht.

(Grüne) Politik braucht Feindbilder

Der ZEIT-Artikel erstreckt sich ausgedruckt über 14 Seiten und ich könnte mindestens doppelt so viel dagegen halten, doch ich möchte lieber auf die angekündigten Atomkraftwerke zurück kommen.

Der 30.06.2011 war vermutlich einer der schwärzesten Tage für die Landwirtschaft. Ausgerechnet die schwarz-gelbe Bundesregierung (Kabinett Merkel II) beschloss als Konsequenz auf das Reaktorunglück im japanischen Fukushima den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie und stieß damit auf breite Zustimmung in Bundestag und Bundesrat. Quasi über Nacht waren Bündnis 90/Die Grünen ihres ureigensten Zieles beraubt worden und mussten sich dringend ein neues politisches Tätigeitsfeld suchen. So entdeckten sie die Landwirtschaft und die Antibiotikaresistenzen für sich. Heute es gibt kaum eine Pressemitteilung der Partei, in der nicht irgendwo die Wörter „Massentierhaltung“ und „Resistenzen“ vorkommen, egal worum es ansonsten eigentlich geht. Der Parteitag in Hamburg hat den Kampf gegen die aktuelle Form der Landwirtschaft explizit zum neuen Leitthema ausgerufen – die Agrarwende.

Fakten und Menschen ignorieren

Im ZEIT-Artikel werden die Grünen-Politiker Friedrich Ostendorff und der niedersächsische Landwirtschaftsminister Christian Meyer durch geschickte Wortwahl lobend hervorgehoben und die ehemalige Landwirtschaftsministerin Astrid Grotelüschen von der CDU (zu Recht) verdammt. Geflissentlich übersehen die Autoren dabei Gert Lindemann von der CDU, den direkten Vorgänger Meyers im Amt. Unter Lindemanns Federführung ist der wegweisende niedersächsische Tierschutzplan entstanden, der tiefgreifende Veränderungen im Konsens auf den Weg gebracht hat – und den der Grüne Minister Meyer jetzt umsetzt, weil er ihn inhaltlich praktisch nicht übertreffen kann. Lindemanns erklärtes Ziel war es, dass Niedersachsen Vorreiter für den Tierschutz in Deutschland werden müsse.

Ideologien blockieren Veränderung1cZeit_Tieräzte_Dealer_im_Stall

Ich halte das Thema Tierschutz in der Nutztierhaltung für zu wichtig, als dass man ihm einfach irgendwelche Ideologien überstülpt, die nur dann als gut und richtig angesehen werden, wenn sie von einer bestimmten Partei stammen. Zumal selbst ein sofortiges Anwendungsverbot von Antibiotika in der Landwirtschaft die Resistenzbildungen (in Krankenhäusern) nicht beseitigen wird. Resistenzbildung ist der ureigenste Verteidigungsmechanismus von Bakterien.

Worte haben eine große Macht, denn sie erzeugen Bilder im Kopf der Leser. Es wäre schön, wenn sich Journalisten ihrer Verantwortung bewusst wären und ihre Formulierungen sorgfältiger wählen würden. Für mich klingt der Text mit seiner deutlichen Voreingenommenheit wie schlechte Propaganda. Er verschärft die Frontenbildung statt das Thema voranzubringen. Schade, dass ein angesehenes Printmedium für so etwas so viel Platz vergeudet. Es lässt Böses erwarten für den zweiten Teil der Serie mit der Überschrift: „Tierärzte als Dealer“.

Update 24.11.2014: Einen Teil des ZEIT-Themas gibt es jetzt auch als Multimediareportage

Teilen
Über den Autor

Annegret Wagner

Dr. Annegret Wagner (aw) hat in Gießen Tiermedizin studiert und arbeitet seit 1991 in der Großtierpraxis; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis mit Schwerpunkt Milchrind im Raum Rosenheim. Seit 2006 arbeitet sie auch als tiermedizinische Fachjournalistin. So hat sie für die VETimpulse die Nutztierthemen betreut und übernimmt diese Aufgabe auch bei wir-sind-tierarzt.de. Um nicht zum Mia-san-mia-Bayer zu mutieren, schaut sie intensiv über den Alpenrand hinaus, vorzugsweise ins englischsprachige Ausland. Kontakt: annegret.wagner(at)wir-sind-tierarzt.de
Web Design MymensinghPremium WordPress ThemesWeb Development

Wildtiere: Hilfe kann auch Leid bedeuten

9. März 20169. März 2016
Ein Faltblatt gibt Tipps zum Umgang mit Wildtieren. (©Landestierschutzbeauftragte Hessen / Erni/Fotolia.com)„Wildtiere brauchen in den aller seltensten Fällen menschliche Hilfe," sagt die Landestierschutzbeauftragte Hessen. Was tun kann, wer ein Wildtier findet – oder aber auch besser lassen sollte – erklärt ein Flyer, den Dr. Madeleine Martin zusammen mit der Landestierärztekammer Hessen herausgegeben hat. (mehr …)